„Raus aus der Komfortzone!“ – Kritische Reflexionen über einen problematischen Slogan
„Raus aus der Komfortzone!“ – Kritische Reflexionen über einen problematischen Slogan
Letztens was es wieder soweit: „Raus aus der Komfortzone!“ war die Überschrift und der Tenor eines Artikels im „Human Resource Manager“, in dem über Objective Key Results (OKR) als „neue“ Managementmethode berichtet wurde.
(https://www.humanresourcesmanager.de/news/okr-methode-raus-aus-der-komfortzone.html?xing_share=news)
„Raus aus der Komfortzone!“ ist ja schon lange ein gängiger Slogan in der Manager- und Beraterszene. So weit, so gut (oder schlecht). Selten aber habe ich den dahinter liegenden (potenziellen) Anspruch so ungeschminkt formuliert gesehen, wie in diesem Artikel: „Mitarbeiter sollen alles aus sich herausholen“. Wow! Weniger als „alles“ reicht also nicht. Wenn man das auch nur im Ansatz ernst nimmt muss man sich fragen, was denn dann noch übrigbleibt im Mitarbeiter – aber vermutlich darf man nicht allzu viel Bewusstsein bei der Formulierung solcher Phrasen unterstellen.
Nun will ich mich nicht lange an OKR abarbeiten. Das ist auch nur eine weitere Managementmethode. Schon problematischer ist das hier implizierte Menschenbild: „Wer sich ehrgeizige Ziele setzt und den eigenen Beitrag dazu penibel misst, der macht es sich nicht gemütlich.“, so der nicht weiter hinterfragte Ansatz in dem Artikel. Ohne Ziele und die penible (!) Beitragsmessung müssen wir also davon ausgehen, dass Menschen die Zeit bräsig auf der Büro-Couch (oder neuerdings vermehrt im Home Office) verplempern. Echt jetzt? Ich war lange genug Führungskraft, um bezüglich der Motivation von Menschen allzu naiv zu sein. Aber hier wird ein Misstrauenskonzept von menschlichem Verhalten angewendet, dass wirklich gestrig ist und schon seit geraumer Zeit wissenschaftlich als nicht haltbar gilt (vgl. z.B. Dan Pink, 2009). Jedenfalls nicht für Tätigkeiten, die ein gewisses Maß an Autonomie brauchen. Und für andere Tätigkeiten machen Ziele-orientierte Ansätze wie OKR ohnehin keinen Sinn. Umso bemerkenswerter ist es, dass hier die Einführung einer gerne als modern und agil bezeichneten Methode mit solch einem antiquierten Menschenbild verknüpft wird.
“Komfortzone” kann man mit Brené Brown definieren als: „Where our uncertainty, scarcity and vulnerability are minimized — where we believe we’ll have access to enough love, food, talent, time, admiration. Where we feel we have some control.”
Diese Definition hört sich nicht nach physischer oder psychischer Hängematte an, sondern einfach weitgehender Abwesenheit von ungünstigen Bedingungen und einem daraus erwachsenden Gefühl relativen Wohlbefindens. Umso mehr verwundert es, wie sehr es der Begriff „Komfortzone“ im Business-Sprech zum Schimpfwort geschafft hat, an das mindestens implizit Erwartungen oder sogar Vorwürfe geknüpft sind. Und da Sprache bekanntlich Wirklichkeit erzeugt, führt das in dysfunktionaler Weise dazu, dass viele Menschen ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie sich in einem Aktivitäts- und Anspannungsbereich aufhalten, den sie gut – also mit Wohlbefinden – schaffen können. In Folge dessen neigen sie dazu, sich dauerhaft zu überfordern.
Lebendige Systeme können – zumindest auf Dauer – nur in ihrer Komfortzone existieren. Am globalen Maßstab kann man das beispielhaft illustrieren: Was würde passieren, wenn sich unser Heimatplanet aus seiner Komfortzone, der habitablen Zone, heraus bewegen würde? Dann würde es sehr schnell sehr ungemütlich. Das können wir in Ansätzen durch den Klimawandel erahnen: Versteppung, steigende Wasserspiegel, Zunahme von Extremwetter, um nur wenige Beobachtungen zu nennen.
Anstatt Menschen ihre psychisch „habitable Zone“ zuzugestehen, wird diese vielfach verunglimpft. Die Kultivierung der permanenten Selbstausbeutung feiert fröhlich Urständ.
Es ist per se nichts gegen Ziele in Organisatioen zu sagen. Sie schaffen – im Idealfall – eine gemeinsame Wirklichkeit darüber, worauf sich eine Organisation ausrichten will und geben Menschen Orientierung. Auch die regelmäßige Überprüfung, ob man noch auf dem angestrebten Weg ist, ob man dabei im passenden Tempo vorankommt oder ob man am Wohin oder am Wie etwas ändern muss, ist an sich nicht problematisch. Und natürlich dürfen Ziele auch anspruchsvoll sein. So wie der menschliche Körper gezieltes Muskeltraining braucht um fitter zu werden, so brauchen auch andere lebendige Systeme, ob soziale Systeme (z.B. Organisationen) oder psychische Systeme von Menschen, für die eigene Weiterentwicklung so etwas wie erhöhte Anspannung.
Problematisch sind die Einseitigkeit, die Maßlosigkeit und das Ignorieren eines grundlegenden Prinzips des Lebens, nämlich Pulsation. Kein lebendiges System kann immer nur im Anspannungsmodus sein. Ohne Ruhezeiten kollabiert jeder Organismus. Es braucht Anspannung und Entspannung, so wie es Einatmen und Ausatmen, Wach sein und Schlafen braucht.
In meinen Coachings begegnen mir immer wieder Menschen, bei denen das übermäßige Verlassen ihrer individuellen Komfortzone zu vergleichbaren Phänomenen führt, wie im oben genannten Zusammenhang mit dem Klimawandel:
- Versteppung: Menschen, die versuchen immer alles aus sich herauszuholen, leiden oft unter eingeschränkter Selbstwahrnehmung. Die eigene psychische Landschaft wird „versteppt“ wahrgenommen – weitgehend unterschiedslos. Die Fähigkeit zu unterscheiden, ob sie Ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen oder (fremde oder eigene) Ansprüche zu erfüllen versuchen, ist häufig verkümmert. Eigene Bedürfnisse zu regulieren hat immer ein Maß, man spürt wann es gut ist. Ansprüche sind maßlos. Die Messlatte für ihre Erfüllung kann jederzeit von jemand anderem angehoben werden. Und auch den selbst erzeugten Ansprüchen wird man nur selten hinreichend gerecht.
- Steigende Wasserspiegel: Sie überfordern sich systematisch und permanent. Sie japsen nach Luft, strampeln mit den Füßen, finden keinen Halt und versuchen im übertragenen Sinn irgendwie den Kopf über Wasser zu halten. Maßlose Erschöpfung, aber auch das beängstigende Gefühl von Kontrollverlust sind meist die Folge.
- Extremwetter: Viele kommen aufgrund dieser permanenten Überforderung in einen regressiven Prozess. Sie ziehen sich unbewusst auf alte, oftmals ungünstige Muster zurück. Dadurch kommt es dann zu dysfunktionalen Verhaltensweisen, wie der Abwertung anderer, dem sich alleine machen oder dem Einnehmen der Opferrolle mit Vorwürfen gegenüber anderen. Je höher die eigentlich nicht mehr zu bewältigende Belastung wird, desto häufiger bekommen diese Verhaltensmuster den Charakter von unkontrollierten „Ausbrüchen“, die bei ihnen selbst und bei anderen „verbrannte Erde“ zurücklassen können.
Vom unreflektierten Anspruch „Raus aus der Komfortzone!“ profitieren Organisationen auf Dauer jedenfalls nicht, eher schon – auch wenn dies etwas geschmacklos klingen mag – Psychotherapeuten und psychologisch arbeitende Coaches. Diese können Menschen behutsam dabei unterstützen, ihre bisherigen Komfortzonen in dem ihnen angemessenen Maß und Tempo zu verlassen. Dann hat die Veränderung schon begonnen, und es kann der Beginn einer dauerhaften Entwicklung sein, in deren Verlauf die individuelle Komfortzone Stück für Stück größer wird. Aber gerade das braucht – neben einem kontaktvollen Gegenüber – einen achtsamen Umgang mit sich selbst, und eben nicht selbstausbeuterische Versuche, Ansprüche (anderer) zu erfüllen, in welchem (methodischen) Gewand sie auch immer daherkommen mögen.
Verweise:
- Brené Brown, The Gifts of Imperfection (Hazelden, 2010)
- Daniel H. Pink, Drive: The Surprising Truth About What Motivates Us (Riverhead, 2009)
- Metatheorie der Veränderung, Leitprozess Selbstwahrnehmung
(https://metatheorie-der-veraenderung.info/wpmtags/selbstwahrnehmung/?action_from=sub_show_more&action_id=192)